Viel wohlklingender Schall und Rauch: Der rot-schwarze Koalitionsvertrag für die 17. Wahlperiode im Berliner Abgeordnetenhaus hat 98 Seiten.
Autor: Michael Melter @ingwerbaer

Es wird verbal viel „begrüßt“, „entwickelt“, „gefördert“, „gestärkt“, „unterstützt“ und dann in „Master-Pläne“ (IT-Branche, Tourismus, Kreativwirtschaft) gepackt, ohne wirkliche konkrete und verifizierbare Zielvorgaben zu leisten.

Die Piratenpartei freut sich natürlich, dass einige ihrer Ziele in dem neuen Vertrag von CDU und SPD eingeflossen sind, allerdings meist in wenig überzeugenden Formulierungen, die eher wohlfällige und populistische Absichtsbekundungen als konkret geplante Maßnahmen sind.

Konkrete piratische Positionen finden sich wie erwartet halbherzig, wenig konsequent und mitnichten pragmatisch und bürgerfreundlich.

Beispiele: Eingeführt werden soll ein E-Government, der Bürger soll Möglichkeiten zur Kontrolle seiner Eingaben bei den Ämtern über Track and Tracing bekommen. Auch ein freies und gebührenfreies W-Lan soll an zentralen Orten der Stadt eingerichtet werden (inklusive einer Änderung der Betreiberhaftung auf Bundesebene). Warum diese unsinnigen begrenzenden Einschränkungen gemacht werden, bleibt unklar. Seit fast 10 Jahren elaboriert der Senat an halbherzigen Lösungen dieses für den freien Zugang zur Bildung wichtigen Punktes.

Einzig konkret die Aussagen zur Exekutive: 75 neue Stellen der Steuerbehörden, zur Eintreibung von ausstehenden Posten und zur Schwarzarbeitsbekämpfung sowie zur Polizei (250 neue Stellen).

6000 neue Wohnungen pro Jahr sollen neu gebaut werden – allerdings auch privat, was keine Entspannung im Mietbereich bringen wird, denn eine im Vertrag erwähnte „angemessene Beteiligung des Senates“ wird nicht durch belastbare Zahlen manifestiert.

Verwaschen auch die Positionen zur Entwicklung des Quartiers am Hauptbahnhof.

Die umstrittene A 100, die viele Parteien wie die Piraten und Bürger in Berlin ablehnen, soll rasch realisiert werden. Dafür sind die Nahverkehrskonzepte weiterhin dürftig und liegen planungstechnisch immer noch hinter den sinnvollen Netzerweiterungen von BVG und S-Bahn, die bereits Mitte der 90er Jahre erarbeitet und vom damaligen Senator Peter Strieder vorbereitet wurden.

Weiterhin begrüßen wir, dass Netzpolitik ein eigenständiges Politikfeld werden soll und die Netzneutralität festgeschrieben wird, dass die Hochschulen qualitativ verbessert werden sollen und dabei auch zahlreiche Lehrkräfte aus unwürdigen und unsicheren Kurzzeit-Verträgen in längerfristige Veträge überführt werden sollen.

Auch die Unterstützung der Bundesratsinitiative zum Entwurf einer Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes (mit der mittelfristig eine doppelte Staatsbürgerschaft eingeführt werden kann) wird von den Piraten ausdrücklich unterstützt, ebenso wie die Gründung des Magnus-Hirschfeld-Institutes (Homosexuellen-Forschungs- und Dokumentationszentrum, Bündnis gegen Hompophobie).

Ebenfalls unterstützungswürdig ist die längst überfällige Reform von Landeswahlgesetz und Landeswahlordnung im Sinne einer gerechten und einheitlichen Änderung.

Auch der geplante Einsatz von weiterer IT wird von uns unterstützt.

Kritisch sieht die Piratenpartei die weiteren Personaleinsparungen von 6,5% in fünf Jahren. Hier muss genau überprüft werden, wo sinnvolle Einsparungen in der inneren Verwaltung möglich sind, aber auch wo Personalaufstockungen unbedingt notwendig sind – z.B. im direkten Service-Bereich im Kontakt mit dem Bürger und Wähler, um Dienstleistung und Transparenz als Bringschuld zu etablieren.

Ebenfalls kritisch betrachten wir die bildungspolitischen Ziele des neuen Senates. In dem Vertrag lassen sich keine ambitionierten Ziele einer nachhaltigen Verbesserung der Schul- und Hochschulpolitik erkennen, die Erhöhung der Lehrergehälter um 2% pro Jahr wird immer noch eine große Lücke zu anderen Bundesländern hinterlassen. Gymnasien und integrierte Sekundarstufen sollen zwar weiterentwickelt werden, undifferenziert bleibt der Vertrag aber bei konkreten Vorschlägen, wie die schulisch schlechte Ausstattung (personal- wie sachtechnisch) verändert werden soll und sich Berlin endlich von seiner traurigen Schlusslichposition bei der Bildung an öffentlichen Schulen entfernen kann.

Strikt ablehnen werden die Piraten Eingriffe im sozialen Bereich, die die Würde der sozial Schwachen in dieser Stadt weiter schwächen werden. Restriktive Maßnahmen sind kosmetische Eingriffe an einer missglückten, strukturell falsch positionierten Sozialpolitik.

Statt einer lange überfälligen Erhöhung der Mietobergrenze bei Transferleistungsempfängern in Anlehnung an den offiziellen Mietspiegel, statt einer nachhaltigen und ernstgemeinten Gender-Gleichstellung, zwingend gesetzlich eingeforderter gleicher Bezahlung von Frauen und Männern sowie Kita-Plätzen, kostenloser Kita- und Schulspeisung und einer dreijährigen Elternzeit, möglich für Männer und Frauen, und Stärkung und Ausbau von Jugendzentren als präventive Maßnahme gegen eine soziale Segregation bleibt es im Koalitionsvertrag bei Lippenbekenntnissen.

Eine zukunftsfähige Entwicklung Berlins bedarf einer stärkeren Integration aller Berliner, mit würdigem Zugang zu Arbeit, Bildung, einer vielfältigen Meta-Familienstruktur (Patchwork, Teilzeitarbeit, Multi-Gender) und Kultur, einer Initiative, die kulturelle Vielfalt für alle Schichten ermöglicht und Segregation und Parallelgesellschaften ablöst.

5 Kommentare

  1. 1

    „Die S-Bahn soll wohl doch ausgeschrieben werden, eine Position, die die Piraten ablehnen, denn eine mögliche Teilausschreibung oder Privatisierung wird den gerade erst gestoppten S-Bahn-Sparwahn wieder neu installieren. Nicht privatisiert werden sollen BVG und BSR.“

    Mal hier auf dem Blog http://berlin.piratenpartei.de/2011/08/14/positionspapier-berlin-ubernimmt-langfristig-den-betrieb-des-opnv-und-der-s-bahn-in-berlin/ lesen und dann noch mal den Koalitionsvertrag. Lt. unserem Wahlprogramm wollen wir die Infrastruktur der S-Bahn ins kommunale Eigentum überführen und für die Position den Betrieb der S-Bahn LANGFRISTIG durch kommunale Unternehmen zu betreiben mit ALLEN Beteiligten die Möglichkeiten erörtern.

    Auszug aus Koalitionsvertrag: http://www.spd-berlin.de/w/files/spd-parteitage/koalitionsvereinbarung-2011-16_final_mit-deckblatt-spd.pdf (Seite 37)

    „Noch im Jahr 2011 wird der Senat 32 Verhandlungen mit der Deutschen Bahn AG mit dem Ziel aufnehmen, die S-Bahn Berlin GmbH zu 33 erwerben. Parallel dazu wird rechtlich geprüft, inwieweit eine Gesamtvergabe des S-Bahn-Netzes
    34 an einen Betreiber möglich ist.“ und

    „Die Ausschreibung wird zwingend vorsehen, dass nach Ablauf eines neuen Betreibervertrages das 44 Land eine Kaufoption auf den Fuhrpark bekommt. Mit der Deutschen Bahn AG wird verhandelt, zu 45 welchem Preis und zu welchen Bedingungen sie die Wagen der Baureihe 481 verkaufen würde. Dies
    46 eröffnet Berlin die langfristige Möglichkeit, die S-Bahn auf ein kommunales Unternehmen übergehen zu lassen“

    Und ihr schreibt in der Pressemitteilung das Gegenteil, das ist nur der Teil der mir auf den ersten Blick auffällt. Im Übrigen liest sich das wie eine Aufzählung und ist wohl auch eine.

    City-Tax dagegen ist keine Beschlusslage, sondern ein Vorschlag der im Rahmen der Finanzierung vom fahrscheinlosen ÖPNV aufgekommen ist.

    Sry mir fällt noch mehr auf, aber ist ja eh zu spät.

  2. 2

    Es fehlt in der Aufzählung der rotschwarzen Pläne die Erhöhung der Grunderwerbsteuer auf 7% (nachdem man vorher bereits von 3,5% auf 4,5% hochschraubte, will man jetzt einen richtig fetten Schluck aus der Pulle nehmen).
    Dieser Unfug wird dazu führen, daß die ‚Großen‘ (gewerbliche Immohändler) Umgehungstatbestände kreieren werden (94% erwirbt die A-GmbH, 6% die B-GmbH), dann dürfen die ‚Kleinen‘ (private Wohnungs- und Einfamilienhauskäufer) diesen erhöhten Mist bezahlen, während sich das Steueraufkommen insgesamt nicht erhöht wegen der zunehmenden Umgehung. Ist das Grundstück erst mal in dieser 94/6%-Konstruktion drin (möglichst noch vor der Erhöhung!), gibt es nie wieder einen grunderwerbsteuerpflichtigen Vorgang, auch wenn man die Hütte 10 mal verkauft. Freuen werden sich die Notare, Steuerberater sowie die Anwälte, ein neues Verkomplizierungsfeld wird geboren.
    Berlin selbst umgeht schon mit dieser 94/6-er-Lösung in landeseigenen GmbH’s diese Steuerpflicht, wenn es Private dann nachahmen, haben sie vom Land gut gelernt…

  3. 3

    Hallo Moni,

    Danke für die Hinweise. Allerdings ist die Überführung ins kommunale Eigentum keine Privatisierung bzw. (Teil-)Ausschreibung, so gesehen ist meine Angabe NICHT falsch. Es geht um die 17. Wahlperiode. Der S-Bahn-Vertrag geht bis 2017. Die Weichen werden jetzt gestellt, und die mittelfristige Planung auch der Piraten zielt NICHT auf Teilnetze, so weit ich das verstanden habe.

    Klar ist diese PM auch eine Stellungnahme, ist eine PM immer, sozusagen auch ein Positionspapier. Ich komme aus der Branche. Zu einem 98-Seiten-Werk (Koalitionsvertrag) sollte man nicht nur ein paar Zeilen schreiben. Auch in Zeiten von Tweets sollte es noch Info-Aussagen über 140 Zeichen geben, um es mal überspitzt auszudrücken. Im übrigen haben auch die anderen Medien/Parteien zum Vertrag etwas länger getextet. Ich halte das zu diesem Thema für angemessen.

    Bei anderen Themen kommt sicher auch mal wieder was kurzes knackiges, aber wie wir alle bei den Piraten muss ja auch erst mal erarbeitet werden, wer was will. Und wie. Und da ist manchmal ein (meist noch fehlendes) konstruktives und aktives Miteinander gefragt, weniger eine (abwertende) Kritik und der Eindruck, dass alle anderen mal eben alles runterkritisieren, weil jeder ja überzeugt ist, alles besser zu machen, ja, wenn, wenn es denn mehr Zeit dafür gäbe….

    Ulli: die Erhöhung der Grunderwerbsteuer ist ein Thema, ja, aber ich habe nicht alle Themen aufgegriffen, sonst wäre es noch länger gewesen. Zum Zeitpunkt der Erstellung des Papiers stand die Höhe der neuen Grunderwerbssteuer noch nicht fest. Ich sehe das mit der Verkomplizierung übrigens genau so wie du, es ist gruselig!

  4. 4
    Gisbert Fanselow

    Schall und Rauch ohne Ideen — und dann wählen 2 von Euch Wowereit mit? Na super!

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