Der folgende Text wurde vom Marcel-André Casasola Merkle unter http://www.137b.org/ veröffentlicht. Wir wollen ihn Euch auch auf unserem Blog nicht vorenthalten.

Es hätte so schön werden können. Oder immerhin ein wenig anders.

Es sind die verpassten Chancen, die einem ein Leben lang nachhängen. In der Rückschau wirkt alles so einfach, so klar. Und trotzdem hatte ich es nicht gewagt.

Ich kann mich genau an diesen Sonntag erinnern. An den 18.9.2011. Am Ende fehlten knapp 4000 Stimmen. Auch meine. Mit 4,7% war die Piratenpartei an der 5%-Hürde gescheitert.

Ich war erleichtert damals. Erleichtert, dass meine eine Stimme auch nichts geändert hätte. Am nächsten Morgen sprach ich mit Peter. Es ging ihm ebenso. Und Sibylle, Andrea und Jörg. Das machte mich nachdenklich.

Wie viele Peters, Sibylles und Andreas mochte es dort draußen noch gegeben haben? Ich wischte es weg. Hätte, hätte, Pferdewette.

Ins Grübeln kam ich Jahre später. Es war nicht so, dass der neue Senat nur Mist gebaut hatte. Es war eher ein „Weiter so“. Berlin verlor nichts von seiner kreativen Strahlkraft. Dafür stiegen die Mieten, die S-Bahn gammelte weiter vor sich hin und im Winter bekamen wir aus ganz Deutschland ironische Bäcker-CARE-Pakete, um zum Streuen das Salz vom Laugengebäck zu knibbeln. Business as usual eben. Arm aber sexy.

Ärgerlich war eher die Selbstverständlichkeit mit der erst der Freischein für die GEZ, dann der Glücksspielstaatsvertrag und der nächste verkrüppelte JMStV durch den Senat gewinkt wurden.

Was mich aber noch mehr schockierte, war die völlige Ignoranz gegenüber den Fragen der Zukunft, die längst zu den Fragen der Gegenwart geworden waren:

Der Wandel hin zur Informationsgesellschaft, Transparenz im politischen Alltag, das Ende der Vollbeschäftigung, die digitale Revolution und neue Formen der Bürgerbeteiligung fanden in der politischen Debatte nicht statt.

Ich hatte den unerfahrenen Piraten nicht zugetraut, diese Probleme zu lösen. Dass die anderen Parteien diese Veränderung schlichtweg totschwiegen, war ein unerwarteter, harter Schlag.

Kleine Experimente. Selbst daran mangelte es.

Vielleicht verkläre ich die Chance, die sich uns an jenem Sonntag bot. Was wäre schon geschehen, wenn sieben kleine Piraten im Abgeordnetenhaus Platz genommen hätten? Sieben von 130?

Die Welt wäre nicht aus den Fugen geraten. Und das ist auch gut so. Die Piraten hätten erst lernen müssen, was es heißt, wenn es ernst wird. Vielleicht ein bisschen wie Günter Wallraff bei seinen McDonalds-Recherchen. Report aus Berlin. Ungeschminkt.

Aber hätte es dann überhaupt einen Unterschied gemacht?

Immerhin: Man hätte sehen können, ob sich Transparenz in unserem Politiksystem überhaupt leben lässt. Ob es geht, integer zu bleiben, den Auftrag des Wählers ernst zu nehmen, für mehr Beteiligung zu sorgen. Vielleicht dann, wenn die Zwänge von machtpolitischen Optionen, Koalitions- und Fraktionsdisziplin wegfallen.

Und mit Sicherheit hätte es bei den anderen Parteien Druck erzeugt. Druck von außen wirkt. Aber er muss aus der richtigen Richtung kommen und nicht von der CDU.

„Die Piraten haben uns sieben Sitze gestohlen. Da müssen wir ran“, hätten sie gesagt.

Im besten Fall hätte es Diskussionen darüber gegeben was Arbeit im 21. Jahrhundert bedeutet. Ob ein BGE ein Ansatz wäre oder purer Blödsinn. Neue Argumente, Erkenntnisse, Lösungsansätze auf den Tisch. Was Privatsphäre bedeutet jenseits von Facebook-Like-Buttons oder ob gläserne Hinterzimmer nicht moderner wirken als jedes halbe Jahr ein Skandälchen über schlecht verhandelte Outsourcingverträge.

Mit Sicherheit aber hätte es Rückenwind gegeben für die schlaffen Segel der engagierten Netzpolitiker bei SPD, Grünen und Linken. Diejenigen, die heute eben so oft belächelt werden wie Umweltpolitiker in den Siebzigern.

Überhaupt. Die Siebziger. Was wäre geschehen, hätten meine Eltern so gehandelt wie ich? Wären wir heute so weit, wenn die Grünen die Themen Gleichberechtigung und Umweltschutz damals nicht in die politische Debatte getragen hätten? Wären die anderen Parteien in die Bresche gesprungen? Und wenn ja, vor oder eher so kurz nach dem Abschmelzen der Polkappen?

Ich weiß nicht, was damals passiert wäre. Ich weiß auch nicht, was 2011 passieren hätte können. Ich weiß nur, dass ich es heute anders machen würde. Und heute doch nichts mehr ändern kann.

Berlin, 2016

K. A.

P.S. Dieser Text erscheint unter Pseudonym. Solange die CDU mich noch lässt.

10 Kommentare

  1. 1

    Also, so wie dieser Artikel geschrieben wurde, könne man nur jedem empfehlen am 18. September das richtige Häkchen zu machen und nicht das man sich erst bei der nächsten Wahl in fünf Jahren bewusst, welch ein Fehler das war.

    Echt TOP geschrieben und sehr lesenswert 😉

  2. 2

    Das wäre doch mal eine Partei,die man wählen könnte,ich weiss aber
    nicht,ob die Piratenpartei in Thüringen und in Ilmenau kandidiert.
    Nach dem Zoff bei den „Linken“wollte ich eigentlich nicht mehr
    zur Wahl gehnen.Fall’s Sie bei uns zur Wahl stehen,werde ich wohl
    doch wieder wählen.

    Heinrich Pohl
    Richard Bockstr.4
    98693 Ilmenau

  3. 3

    Und genau darum geh ich auch am 18. wählen.

  4. 4

    Die Piraten in Berlin stehen bei den letzten 4 Umfragen immer bei 4% oder 4,5%. Wer jetzt noch immer nicht die Piraten wählt, der muss sich am Ende fragen lassen, ob seine Stimme am Ende den Ausschlag für den Nichteinzug gegeben hat.

    Wer jetzt immer noch FDP wählt, dem ist echt nicht mehr zu Hälfen. Da ist nämlich „die Stimme im Gulli“ (modifiziertes Zitat Westerwelle).

  5. 5

    Sehe gerade wer helfen mit ä schreibt, dem ist auch nicht mehr zu helfen^^

  6. 6

    Ich war genau so, wie es der Artikel beschreibt. Damit ist jetzt Schluß.
    Wer wählen geht und das Kreuz an falscher Stelle setzt ist selber schuld.
    Und wer sagt, „das habe ich schon immer so gemacht“, der ist bequem.
    Aktuelle Umfrage im Berlin-Trend: 4,5% für die Piraten.
    Los jetzt! Die restlichen 0,5% knacken. Und dann: anfangen zu ÄNDERN

  7. 7

    Klarmachen zum Ändern!

  8. 8
  9. 9
    Piraten stellen sich tot! Warum?

    was muss ich hier lesen? 3 Mikrige einträge im August. Kein Wort zu den anderen Parteien, zu fliegenden Überwachungsdrohnunen in Berlin, zu brennenden Autos oder den brutalen Übergriffen auf die Zeltstadt am Alexanderplatz, nix.

    Alle Piraten tot? Abgehaun? Gekauft. Weiß wer was genaueres?

    • Ahoi

      Eher das Gegenteil von „tot“ ist der Fall. Wir sind draußen auf der Straße, auf den Podien und Bühnen. Da wir keine professionelle Redaktion für unseren Blog bezahlen können, bleibt dabei das online Auftreten etwas zu rück. Wir sind dabei das zu bessern.

Antworte auf Chris