Bericht von Andreas Schramm, Rechtsanwalt, Vertreter der PIRATEN Berlin beim Wahlprüfungsverfahren

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin (AZ.: VerfGH 154/21) hat am 28.09.2022 mündlich über die Gültigkeit der Wahlen (Abgeordnetenhaus und Bezirksverordnetenversammlungen) vom 26. September 2021 verhandelt.

Die Berliner  PIRATEN wurden in der Verhandlung durch André Lefeber, Mitglied des Vorstands, und mich, Andreas Schramm, Rechtsanwalt, vertreten.

Die Verhandlung war so strukturiert, dass die Vorsitzende (Präsidentin Ludgera Selting) zunächst die vorläufige Rechtsauffassung des Gerichtes bekannt gab und alsdann die Beteiligten und deren Vertreter Gelegenheit zur Äußerung ihrer Sicht bekamen. 

Die Rechtsauffassung des Gerichtes selber war -nach Darstellung des Sachverhaltes –  in drei Teile aufgegliedert: 

  • Wahlfehler -> Mandatsrelevanz -> Rechtsfolgen

I. Sachverhalt

Am 26. September 2021 wurde in Berlin gewählt. Hierbei konnten sechs Kreuze auf fünf Stimmzetteln gemacht werden. Die Abgabe der Stimmen war in 2256 Wahllokalen möglich. Geplant war, dass max. 750 Wählende ihre Stimme in einem Wahllokal abgeben konnten. Tatsächlich waren es überall deutlich mehr Wählende, in der Spitze (Pankow) bis zu 1500.

Die Wahlen selber liefen nicht so ab, wie dies hätte sein sollen. Es gab massenhaft Unregelmäßigkeiten.

So gab es

– Unterbrechungen, da keine Stimmzettel mehr vorlagen

– teilweise wurden nur vereinzelte Stimmzettel ausgeteilt

– in etwa der Hälfte der Wahllokale („1066“) wurde noch weit nach 18 uhr gewählt, obwohl Prognosen zu diesem Zeitpunkt schon bekannt gegeben wurden

– teilweise wurden Wahlzettel für einen anderen Bezirk ausgereicht

– teilweise wurden Wahlzettel einfach kopiert und dann ausgeteilt

– Wählende mussten teilweise stundenlang in einer Warteschlange warten

II. Vorläufige Rechtsauffassung des Verfassungsgerichtshofes

Die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen sind für ungültig zu erklären.

Beide Wahlen sind -komplett- zu wiederholen.

1. Wahlfehler

Sowohl die unzulängliche Vorbereitung der Wahlen wie aber auch die Durchführung der Wahlen sind jeweils als Wahlfehler anzusehen, da Wählende ihre Stimme nur unter unzumutbaren Bedingungen abgeben konnten. Eine Freiheit der Wahl war nicht gegeben.

2. Mandatsrelevanz

Ein Wahlfehler ist dann mandatsrelevant, wenn eine andere Sitzverteilung ohne Wahlfehler konkret möglich gewesen wäre. Da eine Dokumentation der Wahlfehler nur unzulänglich erfolgte, ist dies schwierig festzustellen. 

Es ist vorliegend aber im Hinblick auf die Vielzahl der Unregelmäßigkeiten die „konkrete Möglichkeit“ der Mandatsrelevanz gegeben. 

Nach Überzeugung des Gerichtes stellen die bekannten Unregelmäßigkeiten nur „die Spitze des Eisberges“ dar.

3. Rechtsfolgen

Auf der Ebene der Rechtsfolgen ist abzuwägen:

  •     Bestandsinteresse <-> Korrekturinteresse

Hierbei ist das Bestandsinteresse am Fortbestehen des (Anmerkung: wegen des laufenden Wahlprüfungsverfahrens noch „nicht bestandskräftig“)  gewählten Parlamentes untergeordnet gegenüber dem Interesse an einer Korrektur des Wahlergebnisses. Die Integrität des Wahlergebnisses ist wegen der Vielzahl und Schwere der Wahlfehler nicht gegeben. Das Vertrauen in die Demokratie würde bei dessen Aufrechterhaltung leiden. Eine vollständige Wahlwiederholung macht sich damit erforderlich. Dies gelte auch für die Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen, da diese an die Wahlen zum Abgeordnetenhaus geknüpft sind.

Hieraus ergibt sich für das Gericht:

Bis zur Wiederholungswahl gelten alle verabschiedeten Entscheidungen/Gesetze, um die Kontinuität der Handelns sicherzustellen.

Die Wiederholungswahl hat auf der Basis von § 21 Landeswahlgesetz zu erfolgen.

§ 21 Wahlgesetz lautet: Wiederholungswahl

(1) Wird im Wahlprüfungsverfahren die Wahl ganz oder teilweise für ungültig erklärt, so ist sie nach Maßgabe der Entscheidung im Wahlprüfungsverfahren zu wiederholen.

(2) Die Wiederholungswahl findet nach denselben Vorschriften, denselben Wahlvorschlägen und, wenn seit der Hauptwahl noch nicht sechs Monate verflossen sind, aufgrund desselben Wahlverzeichnisses wie für die Hauptwahl statt, soweit nicht die Entscheidung im Wahlprüfungsverfahren hinsichtlich der Wahlvorschläge und des Wahlverzeichnisses Abweichungen vorschreibt. Personen, die zwischenzeitlich das Wahlrecht verloren haben, sind aus dem Wahlverzeichnis, Personen, die zwischenzeitlich die Wählbarkeit verloren haben, sind aus den Wahlvorschlägen zu streichen.

(3) Die Wiederholungswahl muß spätestens 90 Tage nach der Entscheidung im Wahlprüfungsverfahren stattfinden. Die Wiederholungswahl unterbleibt, wenn feststeht, daß innerhalb von sechs Monaten eine Neuwahl zum Abgeordnetenhaus stattfinden muss. Den Tag der Wiederholungswahl bestimmt der Landeswahlleiter.

(4) Aufgrund der Wiederholungswahl wird das Wahlergebnis nach den §§ 15 bis 19 neu festgestellt.

Im Anschluss an die Bekanntgabe der vorläufigen Rechtsauffassung des Gerichtes konnten die Beteiligten und deren Vertreter Stellung nehmen.

Landeswahlleitung und Innensenator versuchten hierbei die Wahlfehler zu relativieren und widersprachen der geäußerten Rechtsauffassung. Sie waren der Auffassung, dass weiterer Beweis erhoben werden muss und gegenwärtig nicht von mandatsrelevanten Wahlfehlern ausgegangen werden könne. Hierfür fehle es an einer Konkretisierung der Auswirkung von Fehlern. Gegebenenfalls solle der Verfassungsgerichtshof die Sache doch dem Bundesverfassungsgericht zur weiteren Entscheidung über die Anforderungen an eine Konkretisierung vorlegen.

Nach erfolgter siebenstündiger Anhörung zog sich das Gericht zur Beratung zurück und wird sich schriftlich zum weiteren Gang äußern.

Was folgt nun?

Ich persönlich gehe davon aus, dass das Gericht -trotz des Drucks aus der Politik- nicht „einknicken“ und bei seiner Rechtsauffassung bleiben wird. Die Wahlen 2021 werden für ungültig erklären werden.

§ 21 des Landeswahlgesetzes verstehe ich hierbei so, dass die Wiederholungswahl mit denselben Wahlvorschlägen (abzüglich etwaiger Streichungen) erfolgen wird. Dies bedeutet für mich, dass (uns) dann wohl nicht noch einmal Unterstützungsunterschriften abverlangt werden dürfen, weil dies zeitlich der Einreichung der Wahlvorschläge vorausgeht. Sicher ist dies aber nicht. Hierzu müssen – so es denn zur „Ungültig-Erklärung“ der Wahlen kommt, zunächst einmal die Ausführungen/Hinweise des Verfassungsgerichtshofes in seiner Entscheidung abgewartet werden. Mit einer Entscheidung ist noch im laufenden Jahr zu rechnen.

Die Wiederholungswahl selber muss dann innerhalb von 90 Tagen nach der gerichtlichen Entscheidung erfolgen.

Was denkst du?