Gastbeitrag von Christian Gebel, Mitglied im Rat der Stadt Dortmund, Fraktion Die Linke & PIRATEN

Herr Müller, der Regierende Bürgermeister, will also ein 365-Euro-Ticket für Berlin. Klar, wenn Wien so etwas hat, kann das so schlecht nicht sein; außerdem passt es in die Zeit. Aber apropos Zeit: In Wien haben umsichtige Politiker vor dreißig Jahren die sprichwörtlichen Weichen dafür gestellt, dass dort heute etwa 38 Prozent der Wege mit Bus und Bahn zurückgelegt werden. Das 365-Euro-Ticket ist dort nur das Sahnehäubchen auf einem System aus vorbildlich ausgebautem Streckennetz und dichten Takten.

Auch der Preis für die Jahreskarte der Wiener Linien war vorher schon günstiger: Im Jahr vor der Einführung der 365-Euro-Tickets bezahlte man in Wien auch schon nur etwa 450 Euro pro Jahr. In Berlin kostet die Jahreskarte für den Bereich AB heute etwa 800 Euro. Während Wien also seinen Zuschuss um etwa 85 Euro erhöht hat, möchte Herr Müller 435 Euro pro Person und Jahr zuzahlen, Berlin hat es ja. In Wien sind die ÖPNV-Preise übrigens auch weiterhin regelmäßig gestiegen, das 365-Euro-Ticket ist die einzige Konstante und wird von den Gelegenheitsfahrern quersubventioniert.

Das alles könnte man sich und den Fahrgästen ersparen, indem man die Tickets abschafft und den ÖPNV vollständig solidarisch finanziert. Vollständig, weil es diese solidarische Finanzierung ja seit langem gibt, nur eben nicht für jeden und nicht in voller Höhe. Semestertickets beispielsweise sind solidarisch finanziert, an vielen Hochschulen sogar mit einem Sozialfond zum Ausgleich von Härtefällen. Und grundsätzlich zahlen Bund und Länder bei jedem Ticket noch einmal etwa das gleiche wie der Fahrgast, denn der sogenannte Nutzerbeitrag deckt die Kosten der Verkehrsunternehmen nur zur Hälfte. Da kann man sich schon fragen, warum man es nicht macht wie Luxemburg: Dort übernimmt der Staat die Kosten für Bus und Bahn vollständig, Kartenverkauf, Kontrolle und Inkasso entfallen.

Schwierig wird das an drei Stellen: Erstens natürlich an den Grenzen des Tarifgebietes, also im Übergang zum Rest der Welt. Daran arbeitet man in Luxemburg gerade. Zweitens, und damit haben Berlin und sein Verbundpartner Brandenburg ein deutlich größeres Problem, bedeuten Alleingänge wie vielleicht in Berlin eine weitere Verschärfung der schon heute ungleichen Lebensbedingungen im Vergleich von Ballungsgebieten und ländlichem Raum sowie in den unterschiedlichen Regionen der Republik. Deshalb reagiert man in Brandenburg auch ein wenig verschnupft auf den Vorstoß von Herrn Müller. Und drittens müsste man befürchten, dass tatsächlich das Ziel erreicht wird und mehr Menschen mit Bus und Bahn fahren, auch zu den heute schon schwierigen Hauptverkehrszeiten. Dass das mit der heutigen Infrastruktur nicht funktionieren kann, ist offensichtlich.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ja, für manche Gruppen sind die derzeitigen Preise zu hoch. So darf beispielsweise kein Sozialticket mehr kosten als den Anteil des ALG-II-Regelsatzes, der für die Fortbewegung vorgesehen ist. Um im Bedarfsfall noch Geld zu Anfahren von nicht mit Bus und Bahn erreichbaren Zielen übrig zu haben, müsste ein Sozialticket sogar deutlich weniger kosten als das Transport-Budget. Aber das zeigt nur, wie ungerecht der ALG-II-Regelsatz berechnet wird. Der ÖPNV wird dieses grundlegende Problem der Sozialpolitik nicht lösen können. Und auch andere Menschen würden sich als regelmäßige Nutzer von Bus und Bahn natürlich über eine Entlastung freuen. Aber dann bitte richtig:

* Abschaffung aller Tickets
* vollständige Finanzierung aus dem Landeshaushalt
* Straferlass für alle verurteilten Schwarzfahrer

Das alles aber bitte nicht vor dem Ausbau des ÖPNV:

* Verdichtung des Takte auf Hauptstrecken
* flexiblere Systeme zu Nebenzeiten und in Randgebieten
* Erschließung bisher schlecht angebundener Gebiete
* Barrierefreiheit vom Start bis zum Ziel
* Verknüpfung mit anderen Verkehrsträgern
* verkehrsträgerübergreifende Beauskunftung
* durchgängige Informationsketten bei Störungen

Weshalb hat es die Idee des fahrscheinfreien ÖPNV eigentlich so schwer? Und weshalb bekämpfen die Verkehrsbetriebe diese Idee so vehement? Könnte es denen nicht egal sein, woher das Geld kommt? Nein. Heute sitzen die Verkehrsbetriebe am längeren Hebel: Wer mitfahren will, muss zahlen, ganz einfach. Wenn aber das Finanzministerium oder der Senat das Geld zuteilte, könnten von dort natürlich auch Vorgaben zur Wirtschaftlichkeit kommen. Und das wollen natürlich weder die Unternehmensleitungen noch das Personal. Es wird also eine schwierige Auseinandersetzung bleiben.

Auf Menschen wie Herrn Müller, auf Menschen also, die nicht viel von Öffentlichem Nahverkehr verstehen, übt daher eine einfache Preissenkung einen offenbar kaum zu widerstehenden Reiz aus. Doch gerade Wien zeigt: Es ist nicht ein niedrigerer Preis, der die Menschen in Busse und Bahnen lockt. Vielmehr sind es ein gut ausgebautes Netz, ein dichter Takt und komfortable, zuverlässige Fahrzeuge, die für den ÖPNV als System werben. Solange die Fahrpreise nicht auf Null sinken, werden eingefleischte Autofahrer immer den Preis als Argument nennen, obwohl es nicht der Preis ist, der sie von der Benutzung der Öffis abhält.

Deshalb gehört mehr dazu, den Öffentlichen Personennahverkehr attraktiv zum machen – in Berlin und anderswo.

Autor: Christian Gebel, Mitglied im Rat der Stadt Dortmund, Fraktion Die Linke & PIRATEN; u.a. Mitglied in der Verbandsversammlung des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR, AöR); Mitglied im Ausschuss für Tarif und Marketing des VRR

seit 2014 Ratsmitglied in Dortmund und Mitglied der politischen Gremien des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr

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